Sei besser, größer, schneller, sei effizienter!
oder: „Jeder* lebt zum ersten Mal.“[1]
Wer sich dieses Zitat genauer auf der Zunge zergehen lässt, wird feststellen: das stimmt.
Wer weiter darauf herum kaut, könnte meinen: „Wenn Jeder* zum ersten Mal lebt, macht Jeder* auch zum ersten Mal all die Dinge in seinem Leben, die er so macht“.
Diese Gedanken weiter gesponnen, zeigen, was wir uns alle mehr bewusst machen sollten: Wenn Jeder* Dinge zum ersten Mal tut, woher weiß ein Jeder*, dass diese Dinge genauso getan werden sollten und sie am Ende genauso perfekt sind?[2]
Die Sache ist, das kann einfach niemand wissen.
Und doch bremst eben jener Perfektionismus unsere Gesellschaft aus. Jeder* muss besser, schneller und effektiver sein. Entweder bist du „stark“ genug (und steigst in das Hamsterrad hinein, mal sehen wie lange du dem Stand hältst), oder die Zweifel der eigenen Geschichte nagen so sehr, bei diesem Spiel jemals mithalten zu können, dass es ganz unterlassen wird, auch nur darüber nachzudenken.
Vielleicht aber ist es ein Teil eben dieser Menschen, der mutig genug ist, den eigenen Weg zu finden, um für sich „perfekt“ zu sein[3]. Das sind dann vielleicht genau diese Menschen, die nicht sehen, was sie am Ende wirklich geschaffen haben. Und dass, das was sie geschaffen haben, ebenso zum ersten Mal getan wurde und somit nicht weniger Wert hat. Nur, dass nicht darüber gesprochen wird.
Liegt also der Wert einer Tat in der heutigen Gesellschaft darin, wie viel darüber gesprochen wird?
Schauen wir uns das genauer an
1. Die sozialen Medien
Es ist kaum überhörbar. Überall schreit es nach MEHR: „Wir zeigen dir, wie du innerhalb kürzester Zeit mehr Klicks / User / Content generieren kannst!“
Mal ehrlich, macht so Social Media wirklich noch Spaß?
- „Schau, diese Reels sind so viel professioneller.“,
- „Diese Menschen sind viel schöner, darum bekannter.“
- „Warum hast du viel mehr User als ich?“.
Solche Fragen / Aussagen sind in aller Munde. Es geht um Techniken, Perfektion und die idealen Mittel.
Freude und Spaß haben am Ende nur die, die ohne Neider ihr eigenes Ding machen können. Solange sie bloß nicht zu sehr bekannt werden.
Doch wer ist am Ende erfolgreicher? Jene, die mehr Content produzieren, oder jene, die weniger Beiträge veröffentlichen und dafür mehr Spaß haben? Geht es am Ende nicht um den eigenen Anspruch von zuvor?
Ja, ich spreche hier von „zuvor“, denn einmal im Strudel dieser medialen Dominanz mitgerissen, ändern sich auch eigenen Ansprüche und Vorstellungen, mit der das persönliche Social Media begann.
Schauen wir weiter:
2. Die Arbeitsphilosophie
„Jeder* ist ersetzbar“. Ja genau, so etwas darf man sich heute von seinen Vorgesetzten sagen lassen. Es ist einfach nur falsch!
Wird denn nicht oft genug betont, dass kompetentes Personal kaum noch zu finden ist? Hier beißt sich doch die Ratte in ihren eigenen Schwanz, oder?
Jeder* muss billiger, aber kompetenter als der Nächste sein. Nur so gewinnt man auf dem Arbeitsmarkt als Arbeitnehmer. Wir denken jetzt nicht an die Folgen für unsere Gesellschaft.
Mehr, lauter, schriller – ist nicht besser, aber bekannter. Bekannter heißt, es wird mehr darauf zugegriffen, weil der Name hier die Marke macht und somit heutzutage Programm ist[4].
Betrachten wir nun den eigentlich wichtigsten Bereich, unser Privatleben:
3. Privat stärken wir unsere Resilienz[5]
Oder etwa nicht?
Der Mensch ist ein Gesellschaftstier, doch die Gesellschaft ist erbarmungslos. Der Stärkste wird siegen – so läuft das Überleben.
Das Problem ist, selbst privat, dort wo wir für uns sein, uns zurückziehen, einem Hobby nachgehen und Kraft tanken können – selbst hier gilt es, immer der Beste zu sein: Die beste Mutter, der perfekte Vater, der beste Computerspieler, die Belesenste, der schnellere Radfahrer, die trainierteste Sportlerin… etc. pp. Das lässt sich ewig fortführen.
Und schau an: hierbei ist der größte Kritiker: WIR SELBST!
Wir selbst geißeln uns, wenn wir unsere persönlich festgelegten Ziele nicht erreichen. Diese Momente, in denen wir denken, nicht gut genug zu sein, mehr machen zu müssen, mehr zu wollen, nur um am Ende frustrierter aus der Sache herauszugehen, als zu Beginn eines Projektes.
Klar manchmal ist man auch stolz, sich durchgekämpft zu haben. Aber wieso müssen wir privat auch noch kämpfen. Reicht es nicht, wenn wir in der Öffentlichkeit, dort, wo wir nach außen wirken, immer im Kampfmodus sind?
Nein, in unseren Köpfen sitzt der größte Kritiker. Hast du etwas geschaffen – zum ersten Mal – bist du vielleicht unsicher ob die Qualität stimmt. Dann werden andere um Rat gefragt, Jene, die durch mehr Übung Erfahrungen gesammelt haben. Sie geben uns gerne konstruktive Kritik. Du kannst dir diese annehmen. Du MUSST es aber NICHT.
In erster Linie solltest du dir in solchen Situationen zuvor folgende Fragen stellen:
-
- Wofür mache ich das?
- Reicht das Ergebnis in dem Falle aus, um meinen Zweck zu erfüllen?
Sonst wird schnell aus einem vorgefassten Ziel, ein „es muss noch mehr sein“.
Ein Beispiel zum besseren Verständnis
Angenommen, ich möchte gern ein Kleid nähen. Meine Herausforderung daran ist es, etwas Neues zu probieren. Es soll etwas Schönes am Ende heraus kommen und es sollte passen.
3 Ziele also:
- Etwas Neues (Schwieriges) soll probiert werden,
- es soll schön sein
- und es soll gelingen, in dem es passt.
Das Ergebnis ist nun da. Und was sehe ich? Den Weg, der hinter dieser Arbeit steckt. Er war nicht leicht und teilweise voller Zweifel. Schlussendlich wird das Ergebnis darunter leiden, besonders wenn hier und da auf Grund der eigenen Mittel Abstriche gemacht werden mussten. Diese Abstriche machen dieses wundervolle Projekt nun minderwertig, OBWOHL doch das Ergebnis (der 3 Punkte) erreicht wurde.
- Es wurde ein neues schwieriges Kleid genäht
- Es ist schön
- Und es passt perfekt.
Warum also diese scharfe Kritik?
Weil zu schnell vergessen wird, was die eigentlichen Grundgedanken waren. Der Weg war weit. Die Optionen, in welche Richtung sich ein Projekt entwickeln konnte, theoretisch mannigfaltig. Doch sind die Möglichkeiten schlussendlich auch nur auf die eignen zwei Hände und vielleicht einer Nähmaschine begrenzt. Punkt!
Es gab keinen Anspruch auf Authentizität. Es musste niemandem etwas bewiesen werden und für die eigenen Pläne hat sich dieses Kleid als perfekt erwiesen.
Bedenke den ersten Gedanken: „Jeder* lebt zum ersten Mal.“
Jeder* macht Dinge zum ersten Mal. Wer wagt es dein Projekt, dein erstes (oder weiteres Werk) ohne Gegenfrage zu bewerten? Das darfst maximal du! Dies aber auch nur im Rahmen deiner Möglichkeiten.
DENN: Jeder* fängt genauso an – zum ersten Mal. Man probiert es weiter – oder was anderes – passt es an – oder ändert was. Man lernt daraus. Jeder* lernt daraus. Niemandem fällt etwas einfach so in die Hände.
Talente existieren. Aber auch sie müssen regelmäßig üben, damit das Gehör, die Hände, die Stimme, der Geist geschult bleiben.
Denkst du in deiner Umgebung sind andere klüger, schneller, fähiger als du? Hinterfrage warum du diesen Eindruck hast? Worauf liegt dein Fokus? Wieviel Zeit haben diese Menschen zum Lesen / Weiterbilden / Üben genutzt? Schnell wirst du feststellen, dass genauso viel Arbeit dahinter liegt, wie du für anderes (Nähen, Elternsein, Reisen, oder arbeiten) – also nicht weniger Schönes, Gutes, oder Sinnvolles verwendet hast.
Und in dem Zusammenhang nochmal: Nur du selbst, darfst dir über die Qualität deiner Sache eine Meinung bilden. Niemand hat ein Recht ungefragt dazu Kritik abzugeben. Keiner kennt deinen Weg, deine Vorgeschichte und deine Möglichkeiten. Nur du selbst.
Und dann sei nicht allzu streng und denke an die zuvor festgelegten Ziele.
Hast du schon einmal vom Impostor-Phänomen gehört?
Wenn du es bis hierhin geschafft hast den Artikel zu lesen und dich hin und wieder auch wiedererkannt hast, kann es sein, dass du dir die Dynamik des Impostor-Phänomens angeeignet hast.
Durch eigene Selbstzweifel, welche durch die Erziehung und Gesellschaft gefördert wurden/werden, merkst du gar nicht, wie gut du in Wirklichkeit bist. Du merkst nicht, dass Menschen eine Stärke in dir sehen, dich bewundern. Du tust das, was du tust, mit Sätzen wie: „das kann doch Jeder* (lernen), das war Glück oder Zufall“, lapidar ab.
Doch eben genau darum geht es. Du hast es gemacht! Du hast es geschafft, und das vielleicht auch zum ersten Mal[6].
Schauen wir zurück zum Thema: Du lebst zum ersten Mal!
Hast du ein Projekt, welches du schon ewig vor dir her schiebst? Immer wieder zweifelst du, ob du dem gewachsen bist – aber dennoch juckt es dich?
Es erst einmal anzupacken, ist oft der schwerste Schritt. Manche trauen sich genau deswegen nicht. Nicht, dass am Ende noch ein Stein ins Rollen gebracht wird und sich etwas an deinem „schönen“ sicheren Leben verändert.
Mach dir das Leben schöner, du hast nur eines. ⇐ Ja ich weiß, wieder so ein toller Kalenderspruch. Aber Fakt ist doch: bist du einmal alt und hast keine Kraft mehr, wirst du dir immer wieder über das Was-wäre-wenn-gewesen Gedanken machen. Glücklich wirst du darüber wahrscheinlich nicht sein.
Jeder* lebt zum ersten Mal. Du kannst im Prinzip nichts falsch machen, außer du versuchst es nicht. Dann aber entscheide dich bewusst dafür und hake das Thema mit für dich gut abschließbaren/glaubwürdigen Argumenten ab.
Stellst du dir Fragen wie: Was ist mit der Familie, mit den Sicherheiten oder dem Geld?
- Mit der Familie kann man reden.
- Geht es um die Sicherheit der Sache, suche dir Rat. Vielleicht ist es gar nicht so unsicher, wie du denkst.
- Bzgl. Geld: unter Umständen finden sich auch hier Mittel und Wege[7].
Fazit
Dieses Zitat „Jeder* lebt zum ersten Mal“ kann ein sehr gutes Mantra sein, um seine persönlichen Zweifel, seinen persönlichen Kritiker zu besänftigen.
Ja, etwas Neues anzugehen, kann Angst machen. Doch nagt es schon so lange an dir, gilt es dann vielleicht doch der Intuition zu folgen.
Jeder* lebt zum ersten Mal, Jeder* macht Dinge zum ersten Mal. Niemand macht die Dinge wirklich perfekt. Vielleicht hat ein Jeder* die Dinge schon öfter versucht als du, aber auch er/sie hat zum ersten Mal damit angefangen.
Das gilt für die Rolle als Elternteil, als Partner, auf der Arbeit, für deine Rolle in der Gesellschaft, vor allem aber gilt es in deiner Rolle vor dir selbst.
Möchtest du an deinem eigenen inneren Kritiker arbeiten, kann ich dir gerne zur Seite stehen. Melde dich einfach hier und wir finden deinen Weg.
[1] Dieses Zitat „Jeder* lebt zum ersten Mal!“ hörte ich zum ersten Mal von Berhard Kuenz, ein moderner Lebensphilosoph – so würden ihn wohl seine Leser von Quora nennen.
[2] Wer definiert überhaupt dieses „perfekt“?
[3] Dies geschieht natürlich unbewusst.
[4] Man kennt das ja von den großen Unternehmen, die nicht ohne Grund in der Kritik stehen.
[5] Die Resilienz definiert der Duden übrigens mit der psychischen Widerstandskraft, die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen.
[6] Hier, und auf anderen Seiten online gibt es zahlreiche gute Gedanken zu diesem Thema des Impostor-Phänomens.
[7] Zum Thema Geld kurz: Möchtest du eine neue Playstation, ein neues besseres Instrument.. oder was auch immer, ist es oft gar nicht so unerreichbar. Da findest du auch Mittel und Wege. Nun überlege ob sich das auf dein Projekt übertragen lassen könnte. Ich wünsche es dir.